Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, umgeben von einer grossen Familie mit liebevollen, frommen Eltern. Besonders mein Vater glaubte aufrichtig an Gott. Er wurde am Ende des 19. Jahrhunderts in Russland geboren. Als 1917 die bolschewistische Revolution ausbrach, kämpfte er auf der Seite des Zaren. Eine Kugel traf den 20-Jährigen an der linken Schläfe, worauf er sofort erblindete. Da die Kugel in der Schläfe stecken blieb, hatte er keine
weiteren Schäden.

  • Es ist offensichtlich, dass Sie Gott nicht gefallen. Sie haben den falschen Weg gewählt, um Ihm nahe zu kommen. Denken Sie an das, was Jesus am Kreuz gesagt hat: ‚Es ist vollbracht.’ Warum wollen Sie seinem vollendeten Werk etwas hinzufügen? Sie müssen nur glauben, dass er alles für Sie getan hat, und dass er Ihnen das ganze erworbene Heil schenkt.“

    Agnès Beau

In seinem Elternhaus las man Bücher über Lourdes und mein Vater beschloss, dorthin zu reisen und um Heilung zu beten. Er packte alle seine Ersparnisse ein, kaufte sich ein Zugbillet und trat die grosse Reise an. Doch schon nach 30km Fahrt wurde er überfallen, sein Geld und das Billet wurden gestohlen, nur den Pass verlor er nicht. Fest entschlossen, sich von seinem Plan nicht abbringen zu lassen, fuhr er nach Hause zurück und erzählte, was ihm geschehen war. Mit der Hilfe seiner jüngsten Schwester zog er dann durch die umliegenden Dörfer und bat um etwas Geld für ein neues Bahnbillet. Und so ist er nach zwei Monaten in Lourdes angekommen. Unterwegs hat er erlebt, wie Menschen ihn aufgenommen, ihm geholfen und ihn ein Stück weit gefahren haben.

Mein Vater wurde in Lourdes nicht geheilt, aber er liess sich nicht entmutigen, denn er hatte so oft die Güte Gottes in seinem Leben erfahren. Er betete immer zum Herrn und es schien, dass er Ihn mit seinen inneren Augen sehen konnte. Gott hat seinen Glauben belohnt und hat ihm in dieser götzendienerischen Stadt einen mitfühlenden, studierten Mann aus der oberen Gesellschaftsschicht zur Seite gegeben. Er hatte ein edles Herz und ein nobles Haus und er kümmerte sich um meinen Vater wie um einen eigenen Sohn. Das ist der Hintergrund, warum Lourdes in meinem Zeugnis immer wieder vorkommen wird.

Unser Familienalltag war von diesem Respekt gegenüber Gott gekennzeichnet. Wir beteten vor und nach dem Essen und an jedem Abend. Meistens knieten wir dazu nieder, besonders meine Eltern. Ich liebte diese gottesfürchtige Atmosphäre. Als ich im Alter von 8 Jahren längere Zeit das Bett hüten musste, fand ich in einer Schublade im Elternzimmer ein Neues Testament. Begeistert las ich, was darin über das Leben Jesu stand. Ich hatte zwar schon von Jesus reden gehört, aber selber den Text zu lesen war etwas ganz anderes. Diese Lektüre gefiel mir so sehr, dass es mir nichts mehr ausmachte, krank zu sein. In meinem kleinen Kinderkopf überlegte ich mir, wie ich es anstellen könnte, immer mit Jesus zu sein. In diesem
Moment fasste ich den Entschluss, Nonne zu werden, wie meine Tante. Dieser Wunsch und dieses Ideal haben mich meine ganze Jugendzeit hindurch bewahrt. Anders als meine Schwestern habe ich mich nicht wegen Knabengeschichten gegrämt; ich fand das andere Geschlecht einfach nur dumm. Ich wurde wegen meiner Entscheidung oft ausgelacht, was ich jedoch geduldig ertrug. Ich wartete auf den Moment, wo ich in ein Kloster eintreteneintreten konnte. Endlich war ich 18; der Zeitpunkt, den ich mir gesetzt hatte, um alles zu verlassen. Mit grosser Freude trat ich in ein Dominikanerinnenkloster ein.(Der Mönchsorden der Dominikaner wurde von Dominique Guzman (1170-1221) gegründet. Es gibt auch Frauengemeinschaften, in offenen oder geschlossenen Klöstern).

Das Kloster

Doch schon das Eintrittsgespräch brachte mich durcheinander. Ich war gekommen, um nah beim Herrn zu sein, aber jetzt sagte man mir, um Gott zu gefallen, müsse ich mich zuerst um mein persönliches Leben kümmern und daran arbeiten, meine Fehler und Sünden auszumerzen. Ich habe diese Regel natürlich akzeptiert, denn – so sagte ich mir – Gott konnte ja nicht einer schmutzigen und rebellischen Person nahe sein. Also habe ich mich von ganzem Herzen und mit voller Energie allen Anweisungen der Vorgesetzten gestellt. Ich hoffte, dass, je schneller ich mich in die vorgegebene Form einpassen würde, desto schneller ich die erwartete Heiligkeit erreichen würde.

Leider ist die Heiligkeit nicht auf Befehl eingetroffen; die naive Freude, die ich anfangs hatte, verblasste immer mehr und die Gemeinschaft mit Jesus, nach der ich mich so sehr sehnte, blieb aus. Es kam mir vor, als hätte er mich verlassen, er, der meine Jugendjahre so erfüllt hatte. Aber weil ich ihn nicht verpassen wollte, hielt ich doch so gut es ging am Klosterleben fest.

Nach dem Noviziat teilte der Orden mich an verschiedenen Stellen für die Unterstützung der Sekretariate ein. Mein Leben war ziemlich trostlos ... aber mein Ziel verlor ich nicht aus den Augen. Vierzehn Jahre flossen in dieser Traurigkeit dahin, und oft rebellierte ich dabei. Dann geschah etwas Aussergewöhnliches: Papst Paul VI  (Papst von 1963-1978) wies die religiösen Orden an, ihre Klosterregeln im Licht des Neuen Testamentes zu überprüfen. Wir mussten jede für sich die Briefe des Apostels Paulus lesen und dann in der Gemeinschaft mit den anderen darüber sprechen. Frische Luft zog durch die Pforte unseres Klosters ein!

Als ich zum Galaterbrief kam, wurde mir bewusst, dass ich wie die Juden unter Gesetz lebte und somit keinen Zugang zur Gnade hatte. Seit da misstraute ich den Regeln, die das klösterliche Leben bestimmten. Ich war innerlich tot. Ich war mir sicher, dass ich in der Hölle landen würde, wenn ich in diesen Strukturen bliebe. Ich wollte unbedingt weggehen, aber da stellte sich die nächste Frage: Würde ich Gott in der Welt einfacher finden als im Kloster? Wo war Gott überhaupt? Meine vielen Sünden drückten mich nieder. Obwohl ich immer wieder zur Beichte ging, blieb ihre erdrückende Last bestehen und belastete mein Gewissen. Ja, mich erwartete die Hölle, ich wusste es. Todesangst umschlang mich ohne Ende, umso mehr, als ich gesundheitlich angeschlagen war. Meine seelischen Qualen führten auch zu Gewichtsverlust. In alledem begleitete mich der 51. Psalm. Immer wieder habe ich diese Verse gesungen:

O Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte
tilge meine Übertretungen nach deiner großen Barmherzigkeit!

Wasche mich völlig rein von meiner Schuld
und reinige mich von meiner Sünde;

denn ich erkenne meine Übertretungen,
und meine Sünde ist allezeit vor mir.

An dir allein habe ich gesündigt
und getan, was böse ist in deinen Augen,

Erschaffe mir, o Gott, ein reines Herz
und gib mir von Neuem einen festen Geist in meinem Innern!

Verwirf mich nicht von deinem Angesicht
und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.

Psalm 51,3-6 und 12-13

Wie viele Tränen habe ich vergossen, allein in der dunkelsten Ecke der Kapelle oder nachts im Bett, wenn ich mich fürchtete einzuschlafen, weil ich den Tod ja in mir trug. In dieser Situation befand ich mich, als der Herr sich über mein schmerzerfülltes Leben niederbeugte.

Gott greift ein

Zwei Jahre nachdem ich angefangen hatte, die Heilige Schrift zu erforschen, gab es eine grosse Herausforderung zu bestehen, die schliesslich zu meiner Befreiung führte. Eines Tages teilte man mir mit, dass meine Mutter ein Bein gebrochen hatte und wünschte, dass ich zu ihr nach Lourdes komme um sie zu pflegen. Meine Vorgesetzten, die wussten, wie schlecht es mir ging, wollten nicht, dass ich das Kloster verlasse. Sie schlugen vor, dass meine Mutter hierher komme, so dass ich sie vor Ort im Kloster pflegen könne. Aber meine Mutter war anderer Meinung. Daraufhin fasste ich den Entschluss, den übergeordneten Verantwortlichen des Klosters aufzusuchen, also den Bischof. Als er gehört hatte, worum es ging, sagte er zu mir: „Wenn es meine Mutter wäre, würde ich gehen und sie pflegen.“ Das brachte Klarheit! Zum ersten Mal in meinen 16 Jahren Klosterleben traf ich eine eigene Entscheidung. Ich ging nach dem Gespräch ins Kloster zurück und sagte: „Ich reise morgen ab.“ Und ich reiste wirklich ab. Die Oberinnen gaben mir gerade genug Geld für das Bahnbillett mit. Aber von diesem Moment an erlebte ich die Grosszügigkeit des Herrn, der für mich sorgte.

Der Herr gibt sich mir zu erkennen

Eines Tages, zwei Monate nach meiner Rückkehr zu meiner Mutter, machte ich Einkäufe auf dem Markt. Neben einem der Stände entdeckte ich ein Plakat mit der Aufschrift: „Lesen Sie die Bibel“. Ich wählte mir von der Auslage eine Karte aus und näherte mich. Ein freundlicher Mann grüsste mich und wir fingen an zu diskutieren. „Ich bin Nonne“, sagte ich.

„Sind Sie glücklich?“, fragte er.
„Nein, überhaupt nicht.“
„Warum denn nicht?“
„Weil ich weiss, dass ich in die Hölle komme.“
„Warum das?“
„Weil ich sehr sündig bin. Sogar wenn ich jeden Tag zur Beichte gehen würde, könnten meine Sünden nicht vergeben werden. Dabei mache ich Bussübungen, bete, weine, suche den Herrn, mache Wallfahrten und misshandle meinen Körper ... ich bin völlig erschöpft. Ich weiss, dass ich Gott nicht gefalle. Was muss ich denn tun?“

„Nichts! Es ist offensichtlich, dass Sie Gott nicht gefallen. Sie haben den falschen Weg gewählt, um Ihm nahe zu kommen. Denken Sie an das, was Jesus am Kreuz gesagt hat: ‚Es ist vollbracht.’ Warum wollen Sie seinem vollendeten Werk etwas hinzufügen? Sie müssen nur glauben, dass er alles für Sie getan hat, und dass er Ihnen das ganze erworbene Heil schenkt.“

Und ich habe geglaubt. Mitten auf dem Marktplatz, mitten in der Menschenmenge, hat der Herr mich gefunden und ich habe ihn gefunden. Ich war völlig überwältigt von so viel Gnade, Licht, Liebe, Vergebung und Glück: Gott war zu mir gekommen. Die erdrückende Last meiner Schuld fiel von meinen Schultern, mein Herz wurde gewaschen, mein Gewissen gereinigt und meine Kraft kehrte zurück. Oh, wie vollkommen ist das Opfer Jesu. Er hat unsere Sünden auf sich genommen und die Strafe dafür getragen. Er, der Sohn Gottes hat sich darum gekümmert. Oh, welche Freude, wenn alle Schuld vergeben worden ist. Welch herrliche Gewissheit! Nein, auf mich wartete nicht mehr die Hölle, denn der Himmel hatte sich soeben aufgetan um mich zu empfangen.

Der Widerstand beginnt

Nachdem ich mich von dem Mann verabschiedet hatte, stieg ich auf mein Fahrrad und machte mich auf den Weg nach Hause. Mir schien, als wäre ich noch nie so schnell gefahren. Meine Mutter hat sofort gemerkt, dass ich nicht mehr die gleiche war. Ich habe ihr alles erzählt, was ich auf dem Markt gerade erlebt hatte, von der geschenkten Gnade, von der Sündenvergebung. Sie wusste genau, in welchem Zustand ich gewesen war, sie hatte mich oft genug weinen gesehen. Und doch war ihre Reaktion überraschend: Sie sagte mir, falls ich die Absicht hätte, mich weiterhin mit „diesen Leuten“ zu treffen, sei ich in ihrem Haus nicht mehr erwünscht. Ich verstand genau, was sie meinte, aber keines ihrer Worte konnte das Glück dämpfen, das mein Herz erfüllte, seit der Herr gekommen war um darin zu wohnen.

Bald darauf wollten meine Vorgesetzten aus dem Kloster, dass ich meine Arbeit im Sekretariat ihrer Klinik wieder aufnehme, die ich während zehn Jahren ausgeübt hatte. Meine Mutter liess mich ziehen und ich kam wieder ins Kloster. Aber ich hatte die Gewissheit, dass meine Tage dort gezählt waren. Ich wusste auch, dass die evangelische Gemeinde in Lourdes für mich betete. Ich konnte oft förmlich spüren, wie der Herr mir Kraft gab um den guten Kampf zu kämpfen.

Ich verbrachte nur wenige Tage im Klinikbüro, dann wurde ich 600 km weiter weg versetzt. Aus dieser Distanz könnte ich die „Ketzer“ nicht mehr sehen, dachte man. Aber dem Herrn sei Dank hatte es auch am neuen Ort evangelische Christen und sie haben mir sehr geholfen. So habe ich verstanden, dass ich eine neue Familie hatte. Ich gehöre nun zur Familie der wahren Gotteskinder. Welch ein Wunder!

An diesem letzten Ort blieb ich ein Jahr. Ich bezeugte meinen Glauben vor den Nonnen und vor den Schülern des Internats, für das ich arbeitete, sowie vor deren Eltern. Dann reichte ich meine Kündigung ein.

Gott schenkt mir Gnade um Gnade

Ich kehrte nach Lourdes zurück, wo ich regelmässig in die Evangelische Gemeinde ging, die mir am Anfang geholfen hatte. Schon im ersten Gottesdienst fiel mir die Liebe der Christen untereinander auf. Welch ein Unterschied zu dem, was ich im Kloster erlebt hatte!

Um zu bestätigen, dass mein Leben nun Jesus Christus gehörte, liess ich mich – zusammen mit sieben anderen – im Fluss bei Lourdes taufen. Bei diesem Anlass traf ich einen russischen Prediger, der viel Ähnlichkeit mit meinem Vater hatte. Er kannte eine Familie, deren jüngster Sohn eine Frau suchte. Der Herr hatte alles schon vorbereitet. Wie sollte ich dieses zusätzliche Geschenk ablehnen?

Inzwischen sind mein Mann und ich pensioniert. Wir setzen einen grossen Teil unserer Zeit für die Verkündigung des Evangeliums ein. Sie können dreimal raten, wie ich persönlich die Botschaft des Evangeliums weitergebe: Ich stehe mit einem Bibelstand auf dem Markt und bezeuge die Liebe Gottes zu allen Menschen und dass sein Heil kostenlos erhältlich ist.

Schlusswort

Zum Schluss möchte ich sagen, dass ich Gott weder in der Religion noch im Kloster gefunden habe; auch nicht in meinem Herzen, wo ich ihn nach dem Ratschlag einiger Menschen hätte suchen sollen.

Aber Gott lässt sich finden, und zwar in seinem geschriebenen Wort, in dem Er sich durch den Heiligen Geist offenbart, damit wir seinen Sohn erkennen, den Er geschickt hat um uns zu retten.

Kurz gesagt, war es ein Papst, der mir ermöglicht hat, die Irrtümer seiner Kirche zu sehen und es war ein Bischof, der mir half aus dem Kloster zu kommen. Schliesslich war es ein Prediger, der im Gehorsam gegenüber Christus an jenem Tag auf dem Marktplatz stand, so dass ich die Gnade ergreifen und die Güte Gottes erfahren konnte.

Agnes (geb. 23.8.1935 in Lourdes) und ihr Mann Henri haben in St. Antonin Noble Val im Südwesten Frankreichs das Freizeithaus „Rehoboth“ aufgebaut, als Ort, wo das Evangelium verkündigt werden soll. Speziell geeignet ist es für christliche Feriencamps und Jugendtreffen. www.centre-rehoboth.com

Agnes wurde am 18. August 2014 in die Herrlichkeit gerufen, Henri folgte ihr am 17. November 2020.

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